Litauen, 2. Liga

REO Vilnius – Nevėžis Kėdainiai 0:1 (0:0)
Beginn: 16:00 Freitag, 24. Juni 2011
Zalgiris Stadion Vilnius, 72 Zuschauer

Am Freitag den 24. Juni 2011 verschlug es mich zum Spitzenspiel der zweiten litauischen Liga in die Hauptstadt Vilnius. Der Tabellenführer REO Vilnius empfing zu Hause seinen unmittelbaren Verfolger Nevėžis Kėdainiai. Kėdainiai ist eine Kleinstadt mit etwa 30.000 Einwohnern, und liegt in der Mitte des Landes.

Beständigkeit und Tradition sucht man im litauischen Fussball vergebens. REO Vilnius ist da ein typisches Beispiel. Gegründet wurde der Verein 2005 als Polizeisportverein „Policija“. Innerhalb der letzten 6 Jahre seit Bestehen wurde bereits sage und schreibe 3 Mal (!) der Vereinsname geändert. 2008 von Policija Vilnius in REO LT. 2011 von REO LT in FC Vilnius und im selben Jahr von FC Vilnius in REO Vilnius. Das klingt alles sehr verrückt, ist es auch, aber im litauischen Fussball durchaus die Regel. Zumindest läuft es sportlich. Man ist amtierender Tabellenführer und drauf und dran von der untersten (der 3. Liga) den direkten Durchmarsch in die höchste Spielklasse zu bewerkstelligen.

Eher als Traditionsklub kann man da den heutigen Gegner bezeichnen. Nevėžis Kėdainiai existiert schon seit 1962. Der Verein hat sich nach dem Fluss Nevėžis benannt, der durch die Kleinstadt fliesst. Nevėžis Kėdainiai also wie etwa Donau Linz, wobei die Donau und die Stadt Linz grössere Dimensionen aufzuweisen haben als Nevėžis und Kėdainiai, aber egal. Nevėžis Kėdainiai konnte bereits drei Mal die litauische Meisterschaft erringen (1966, 1972 und 1973). Seit 4 Saisonen ist man zweitklassig. 2005 und 2006 spielte man in der obersten Liga. Man konnte sich dauerhaft aber nicht behaupten und präsentierte sich in beiden Saisonen als typischer Punktelieferant. Zwischen 1997 und 2003 spielte dauerhaft in der 1. Liga. Man konnte sich aber auch damals nie im Spitzenfeld positionieren.

Kommen wir also zum betreffenden Spiel. Ohne Internetz hätte ich wahrscheinlich nie vom diesem Spiel erfahren. Warum? Plakate, Spielankündigungen oder irgendeine Information beim Stadion waren nämlich absolute Fehlanzeige. Der Anstoss wurde an diesem Freitag für 16:00 versprochen. Das heisst nicht viel. Oft werden solche Spiel nämlich kurzfristig verschoben oder abgesagt. Den Veranstaltern ist es egal, weil sich das Zuschaueraufkommen sowieso in Grenzen hält. Besonders wenn es sich um Mannschaften wie REO Vilnius handelt.

Auf dem Weg zum Stadion. Freitag Nachmittag in Vilnius, und dann auch noch ein Feiertag. Dementsprechend leer waren die Strassen.

Am Stadion angekommen. Es deutet noch nichts auf das Spitzenspiel der zweiten litauischen Liga hin.

Ich kam also eine Stunde vor Anpfiff beim Stadion an. Der Nachwuchs trainierte am Feld, einige Leute standen demotiviert im Stadionbüro herum, von einem in einer Stunde beginnenden Spitzenspiel der zweiten litauischen Liga konnte man aber noch nichts erkennen. So nutzte ich die Zeit und entschloss eine Runde um das Stadion zu spazieren. Neben dem Stadion steht gleich eine Basketballhalle, und da tat sich etwas mehr. Angeblich fand zu diesem Zeitpunkt gerade eine Basketball Weltmeisterschaft statt. Estland gegen China? Ich weiss es nicht. Vor der Halle standen massenweise Busse aus Estland und rund um die Halle knippsten einige Chinesen in Nike Klamotten und Kapperl mit ihren Digitalkameras wie wild die Halle. Daher meine Annahme es könnte sich um die Basketballpartie Estland gegen China gehandelt haben.

Der Haupteingang. Keine Plakate, keine Hinweise, einfach nichts dass hier bald ein Fussballspiel vermuten lassen könnte.

Die Kassenhäuschen blieben geschlossen.

Die Runde um das Stadion zog sich etwas, da noch ein Trainingsfeld zum Stadionbereich gehörte, und auf der Seite gegenüber ein Wohn und Bürokomplex stand der erst einmal umgangen werden musste. Es handelt sich dabei um das Zalgiris Stadion. Die Heimstätte von Zalgiris Vilnius. Sozusagen das Rapid Litauens. Die Farben grün und weiss, und DER Fussballverein in Litauen. Gegründet 1947 als FK Dinamo, zwischen 1948 und 1962 als Spartakas bekannt, einigte man sich 1962 endlich auf den Namen Zalgiris und sah von weiteren Namensänderungen Gott sei Dank ab. Errichtet wurde das Stadion unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg von deutschen Kriegsgefangenen. 1950 fand die Eröffnung statt. Ein makaberes Detail am Rande: das Stadion befindet sich auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof.

Auf meinem Rundgang. Blick auf das von deutschen Kriegsgefangenen erbaute Fussballstadion.

Die Mühe den Zaun einzutreten war umsonst. Der Eintritt war ohnehin gratis, und für die erste Liga ist das Stadion bereits gesperrt. Zalgiris Vilnius trägt seine Heimspiele derzeit in der „Fussball Manege“ (Fussballhalle mit Kunstrasen), oder in den Nationalstadien von Kaunas oder Marjiampole aus.

Als ich zum Haupteingang zurückgekehrt war, schloss ich mich einem älteren Herrn an, der auch zum Fussball zu gehen schien. Eintrittskarten? Nein, die brauchte man nicht. Man spazierte einfach durch das Tor und erklomm die Haupttribüne. Die Zuschauer die bereits Platz genommen haben konnte man schnell abzählen. Würde man da noch Eintrittsgeld verlangen, wäre Funktionäre, Schiedsrichter und Akteure wohl alleine im Stadion. Bei Spielbeginn zählte ich genau 72 Zuschauer (ohne Trainer und Ersatzspieler).

Die Haupttribüne einige Minuten vor dem Anpfiff. Im Anschluss kamen aber dann doch noch einige Zuschauer mehr, und ich zählte am Ende 72 Zuschauer.

Das Stadion ist für Erstligaspiele gesperrt. Seit dem Bau nach dem 2. Weltkrieg ist hier nicht mehr viel passiert. Fussball wird in Litauen sehr stiefmütterlich behandelt. Vor wenigen Jahren war dies noch das Nationalstadion. Inzwischen ist es schon in einem sehr bedauernswerten Zustand.

Hier hilft wohl nur noch ein kompletter Abriss und Neubau. Mit kosmetischen Veränderungen ist man da am Holzweg.

Rauf auf den zweiten Rang der Haupttribüne.

Das Spiel hatte noch nicht begonnen, da bemerkte ich zwei Reihen unter mir zwei Zuschauer die sich in deutscher Sprache unterhielten. Es stellte sich heraus dass sie extra aus Stuttgart angereist waren, und sich das Spitzenspiel der zweiten litauischen Liga auch nicht entgehen lassen wollten. Sie stellten sich in den folgenden 90 Minuten als nette und interessante Gesprächspartner heraus. Auch ein Litauer wurde auf uns aufmerksam und fragte noch einmal nach: „Ihr kommt extra von Deutschland nach Litauen um ein Spiel in unserer 2. Fussballliga zu sehen?“ Als die beiden Stuttgarter dieser Frage bejahten, brach er in Gelächter aus. Er trug übrigens eine FC Barcelona Regenjacke (ja, es goss in Strömen), und dass er ausgerechnet beim Tabellenführer aufgetaucht ist, dürfte wohl auch kein Zufall gewesen sein. Typischer Gloryhunter eben. Wäre REO Vilnius am 4. oder 5. Platz gestanden, hätten wir den sicher nicht getroffen, wetten?

Es geht los! Die Mannschaften laufen ein.

Beide Mannschaften starteten mit einem 4-5-1 und liessen die Sache einmal gemächlich angehen. Hier wollte keiner verlieren und kein unnötiges Risiko eingehen. Im Laufe des Spiels hatte die Heimmannschaft die besseren Einschussmöglichkeiten. Doch Torchancen waren rar, und die wenigen die sich ergaben wurden nicht genützt. Beide Mannschaften glänzten mit kompakten Abwehrreihen. Nur selten ging da etwas durch. Vor allem REO Vilnius tat sich da sehr schwer. Das Ergebnis waren haarsträubende Weitschussversuche die irgendwo landeten, nur nicht in der Nähe des gegnerischen Gehäuses. 0:0 ging es in die Pause.

Die Gäste in gelb und blau begnügten sich am Beginn der Partie mit dem hin und herschieben des Balles in den eigenen Abwehrreihen. Der einzige Stürmer von REO Vilnius sparte es sich auch die gegnerischen Verteidiger in dieser Situation unter Druck zu setzen.

Eine typische Szene. REO Vilnius (grün) im Angriff, doch vor dem 16 Meter Raum war meist Endstation.

Auch in diesem Fall kam REO Vilnius nicht durch.

Nevėžis Kėdainiai zog sich bei Ballverlust schnell mit fast allen Spielern in den eigenen 16er zurück. So sah das dann in etwa aus wenn sich REO Vilnius wieder einmal mehr vorne festlief. Man fand einfach kein Rezept gegen die massierte Abwehr der Gäste.

Nevėžis Kėdainiai Torhüter voll konzentriert.

Gefährliche Betreuerbank für die Gäste. Als der Ball einmal das Dach trifft, löst sich ein Metallteil. Wäre der Nevėžis Trainer etwas mehr links gesessen, hätte es zumindest einen blutigen Kopf gegeben. Das Glasdach hat übrigens schon vor dem Spiel so ausgesehen. Das war nicht der böse Ball an diesem Tag.

Als die Gäste aus Kėdainiai die Hilfslosigkeit des Tabellenführers erkannten, wurden sie in der 2. Hälfte etwas mutiger. Durch Unachtsamkeiten kam REO Vilnius nun aber auch wieder zu den Einschussmöglichkeiten die teilweise aber kläglich vergeben wurden (zB alleine vor dem Torwart). Trotzdem muss man aber sagen dass man ab der 60. Minute nicht wirklich gemerkt hat, wer hier der gastgebende Tabellenführer war und wer als verfolgende Gastmannschaft kam. Nevėžis Kėdainiai kam nun auch öfter nach vorne und ein herrlicher Volleyschuss aus etwa 16 Metern schlug in der 82. Minute unhaltbar für den REO Torhüter im Netz der Gastgeber ein.

REO Vilnius kommt zwar auch in der zweiten Halbzeit zu Einschussmöglichkeiten, doch es gelingt ihnen kein Tor.

Nevėžis Kėdainiai traut sich im Anschluss immer mehr zu.

Der Torjubel in der 82. Minute.

In den letzten Minuten wurde die Partie dann etwas ruppiger. REO Vilnius wollte den Triumph der Gäste noch mit allen Mitteln verhindern, doch Nevėžis Kėdainiai liess da nichts mehr anbrennen und hätte in den letzten Sekunden mit etwas Glück auch noch das 2:0 erzielen können. Unvermögen von REO und die starke Defensivleistung der Gäste haben sich in den Schlussminuten fortgesetzt, wobei REO auch zu keinen dicken Chancen mehr gekommen ist. Nur noch mit unnötigen Härteeinlagen konnte man auf sich aufmerksam machen. Der Sieg war den Gästen aber nicht mehr zu nehmen.

In den letzten Minuten wird das Spiel noch durch einige Härteeinlagen geprägt.

Die letzten Sekunden laufen. Nevėžis Kėdainiai erkämpft sich den Ball …

… an der rechten Seitenlinie geht es vorwärts …

… der Spieler der Gäste zieht in den Strafraum …

… legt zurück in die Mitte …

… und der anschliessende Abschluss geht ganz knapp über das Tor. Das war die letzte Chance. Es folgte der Schlusspfiff!

Nach dem Spiel war es auch mit dem Regen vorbei. Im selbstgebastelten Fanbus feierte der Nevėžis Anhang ausgelassen den Triumph gegen den Tabellenführer. Vor der Heimreise zog man anscheinend noch eine Ehrenrunde durch Vilnius. Die ganze Stadt soll es wissen. Nevėžis hat gewonnen!

… auch wenn es im basketballverrückten Litauen wahrscheinlich keine Menschenseele interessiert hat, und in Vilnius die Mehrheit nicht einmal von der Existenz „ihres“ Noch-immer-Tabellenführers der zweiten Fussball Liga wissen dürfte.